Liebe Lovebirds,

was Ihr hier lesen könnt, ist etwas ganz Besonderes! Figen Barten hat dieses Märchen vor vielen Jahren für ihre damals sechsjährige Tochter Leila geschrieben. Es ist aber natürlich auch ein Märchen für Erwachsene, das uns zeigt, was ein echtes Miteinander bewirken kann. Auch wenn diese Geschichte lange vor der Corona-Zeit entstand, zeigt sie doch – und das beeindruckt mich – wie das, was den Frieden, die Liebe und die Freiheit von außen her stört, in andere, konstruktive Bahnen gelenkt werden kann.

Ich wünsche Euch eine wundervolle Zeit unter dem Herzbaum – heute und immer!


 

 Figen Barten

Der Herzbaum

Auf einem kleinen Hügel, der sich inmitten eines großen Waldes erhob und von einer Blumenwiese umgeben war, stand ein mächtiger Baum. Er trug viele Blätter, die wie kleine Herzen aussahen.

Unter diesem Baum versammelten sich jeden Morgen alle Tiere, die in dieser Gegend wohnten. Der Herzbaum gab ihnen nämlich noch viel mehr Wärme, Liebe und Kraft, als sie ohnedies schon hatten.

Er schenkte allen die Gewissheit, nicht alleine zu sein.

Und so trafen sich, kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, die Hasen, die Rehe, der Hirsch, die Pferde, die Singvögel, die Schmetterlinge und natürlich die Marienkäfer. Auch kleine Mäuslein kamen ab und zu vorbei, um zu sehen, wer von den Tieren alles da war. Sie liebten es nämlich, die Neuigkeiten so schnell es ging, zu verbreiten, so dass ein jeder wusste, was sich unter dem Herzbaum ereignete.

Es bereitete allen eine große Freude, sich im Schatten der Herzblätter zu treffen und den täglichen Frieden, den ihnen der Baum schenkte, zu genießen.  Und so dachten sie gar nicht daran, dass sich das, was sie Tag für Tag dort erlebten, je ändern könnte. Und doch war es so.

Es gab nämlich einen, dem diese tägliche Zusammenkunft gar nicht gefiel: Yegor, dem feuerspeienden Drachen, der hoch oben in den Bergen lebte und bei seinen Beobachtungsflügen ganz genau hinschaute, wann welches Tier zum Herzbaum kam.

Von diesen Geschöpfen aber wagte es keines, ihn zu besuchen oder nach ihm zu sehen, ob es ihm gut ginge, weil alle Angst vor ihm hatten. Sie wussten, dass er anderes war als sie und überdies noch ziemlich gefährlich. Außerdem fanden sie ihn schrecklich hässlich.

Eines Tages flog Yegor, nachdem er die ganze Nacht über unglücklich über sein Schicksal wach gelegen war, schon ganz früh am Morgen von seinem Berggipfel zum Herzbaum und spuckte voller Eifersucht und Hass sein glühendes Feuer. „Weg mit dir und deinen scheußlichen Herzen!“ schrie er. „Ich kann dich nicht mehr sehen! Brennen sollst Du, und zu Asche sollen deine Blätter werden!“

 

Als sich die Tiere später beim Herzbaum versammeln wollten, waren sie entsetzt und traurig. Ihr Baum war schwarz. Kohlrabenschwarz.  All seine Blätter waren verbrannt! Er war kaum wiederzuerkennen! Und zum ersten Mal sahen sie den Herzbaum weinen. Was war nur geschehen? Schnell war allen klar, dass das Yegor gewesen sein musste. Denn nur er war in der Lage, eine solche Verwüstung anzustellen.

Als die Tiere überlegten, was nun zu tun sei, schlug eines der Rehe vor: „Lasst uns den Herzbaum streicheln, damit er wieder fröhlich wird.“ „Ja, das machen wir“, riefen die Hasen, hoppelten aufgeregt um den Baum herum und schmiegten sich mit ihrem weichen Fell an den harten, verkohlten Stamm. Und die Vögel zwitscherten: „Und wir singen den verbrannten Blättern unsere schönsten Lieder, das hilft ihm sicherlich auch.“ „Wir heilen mit unserem Flügelschlag die Brandstellen,“ flüsterten die Schmetterlinge, während die Pferde anboten: „Wir traben um den Herzbaum herum und rütteln mit unseren Hufen die verbrannte Erde wieder auf.“ Der Hirsch brummte nur: „Wenn ich diesen Drachen erwische, dann wird er mein Geweih zu spüren bekommen!“ Und die Mäuslein schwärmten so rasch es ging in alle Himmelsrichtungen aus, um den anderen Tieren zu erzählen, was sich Schreckliches am Herzbaum zugetragen hatte. Kurz darauf kamen noch mehr Hasen, Rehe, Hirsche, Pferde, Vögel, Schmetterlinge, Marienkäfer und viele andere Tiere herbei, um bei der Heilung des Herzbaums zu helfen.

Und sie umrundeten den Baum, schenken ihm ihre Liebe und gaben ihm ihre Kraft, jeder so viel er konnte. Da geschah etwas wunderbar Seltsames:

Nach und nach wuchsen dem Herzbaum neue Blätter. Ganz allmählich wurden sie mehr und mehr. Anfangs leuchteten sie rosa, später dann in allen Farben. Es war, als wäre eine unbekannte Kraft in den Herzbaum eingezogen, die es vermochte, ihn noch schöner und leuchtender als zuvor zu machen.

Als Yegor sah, was dort unten geschah, schäumte er vor Wut und er beschloss, den Herzbaum am nächsten Tag wieder anzugreifen. Er konnte es einfach nicht ertragen, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein.

Nachdem der Baum all seine Herzblätter wiedererlangt hatte, fragten sich die Tiere, was sie denn tun sollten, damit das, was geschehen war, sich nicht noch einmal ereignete.

„Wir müssen eine Mauer bauen, die so hoch ist, dass Yegor sie nicht überwinden kann,“ schlug der Hirsch vor. „Das ist keine gute Idee,“ meinten die Rehe, „denn dann haben wir ja keinen Platz zum Atmen mehr und begrenzen uns selbst. Außerdem kann er uns ja immer noch aus der Luft angreifen.“ „Wir halten Wache“, riefen die Singvögel, „von oben können wir genau sehen, ob und wann Yegor herbeifliegt.“ Da ergriff einer der Marienkäfer das Wort und sagte: „Ich habe eine ganz andere Idee. Wir lassen alles, wie es ist, und sollte der Drache die Blätter wieder verbrennen wollen, dann setzen wir uns ganz schnell darauf und schützen sie mit unserem Körper.“ „Aber dann verbrennt ihr ja, ihr Dummköpfe,“ meinte der Hirsch und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, so kann das nicht gehen. Wir müssen uns etwas Anderes überlegen.“ „Ja, ja, das müssen wir,“ quietschen die Mäuslein, aber was das sein konnte, das wussten sie auch nicht.

Unter den Tieren gab es eine sehr mutige, junge Stute mit einem Glitzerschweif, die Manou hieß. Zu den versammelten Freunden sagte sie: „Ich werde mich heute Nacht, wenn Yegor schläft, in seine Höhle schleichen und ihn mit meinem Schweif einpinseln.“

„Das traust du dich“, riefen die anderen Tiere ängstlich. „Was, wenn er aufwacht und dich bemerkt? Vergiss nicht, er ist ein schrecklicher Drache! Außerdem wird er sich an uns allen rächen, wenn er merkt, was du getan hast!“

„Vertraut mir,“ sagte Manou ganz ruhig. Und als sie loszog, um zur Höhle von Yegor zu gelangen, wusste sie zwar nicht, ob ihr Plan aufgehen würde, aber irgendwie spürte sie, dass ihr Entschluss  richtig war.

 

Yegor lebte an einer kaum zugänglichen Stelle im Gebirge. Der Weg zu ihm war steil, und Manou musste gewaltig aufpassen, dass sie auf dem Schotter nicht ausrutschte und den ganzen Berg hinabstürzte. Als sich der Saumpfad plötzlich teilte, wusste sie nicht mehr weiter. Sollte sie nach links gehen oder nach rechts? Noch höher hinauf oder doch lieber geradeaus? Außerdem war Manou schon seit Stunden unterwegs und ziemlich erschöpft.

Während sie dastand und grübelte, ob sie überhaupt weitergehen oder nicht doch lieber umkehren sollte, kam ihr ein stolzer Steinbock entgegen. „Was machst du denn in dieser trostlosen Gegend,“ fragte er verwundert, „von euch Pferden kommt doch sonst niemand hier hoch. Hast du dich vielleicht verlaufen? Kann ich dir weiterhelfen?“

Manou überlegte, ob sie ihm sagen sollte, was sie vorhatte, schließlich wusste sie nicht, ob der Steinbock vielleicht ein Vertrauter des Drachen war. Aber dann überwand sie sich und erzählte ihm, was geschehen war und was sie vorhatte.

Der Steinbock hielt kurz inne, dann sprach er: „Da hast du dir ja etwas Schönes ausgedacht. Aber es könnte sein, dass es hilft. Ich werde mitkommen und Dir zur Seite stehen. Siehst du den steinigen, kleinen Pfad dort oben? Das ist der Weg zum Drachen, den wir jetzt gehen müssen.“

Mit dem Steinbock an ihrer Seite wuchs Manous Zuversicht, dass ihr Vorhaben gelingen würde. Und je weiter sie vorankamen, desto mehr fielen die Zweifel von beiden ab. Auch wenn es immer dunkler wurde – Angst hatte Manou nicht.

Dann hatten sie den Eingang zur Höhle erreicht. Die Nacht war angebrochen. Manou wagte den ersten Schritt in den steinernen Bau, während der Steinbock außen wartete. Denn was würde geschehen, wenn sich Yegor noch gar nicht in seiner Höhle befände? Dann würde er Manou entdecken, sobald er zurückkäme. Und das wäre gar nicht gut für sie. Deshalb hielt der Steinbock Wache.

Immer tiefer drang Manou in den Drachenbau vor. Schließlich fand sie den schlafenden Yegor. Ganz leise schlich sie sich zu ihm hin und pinselte ihn mit ihrem Glitzerschweif ein. Ohne dass das Scheusal aufwachte, vollendete sie ihren Plan.

Behutsam tappte Manou wieder aus der Höhle und berichtete außen ihrem neuen Freund von ihrem Erfolg. Der Steinbock war überglücklich und führte sie sicher an die Stelle zurück, an der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten.Schließlich, nach vielen Stunden, hatte sie die Rückkehr geschafft und schlief erschöpft, aber erleichtert in der Nähe des Herzbaumes ein.

Es kam wie von den meisten der Tiere befürchtet: Am nächsten Morgen flog Yegor wütend und fauchend zum Herzbaum. Er holte tief Luft, um Feuer zu spucken. Doch – es kam kein Feuer, sondern…
…Glitzer aus seinem Maul! Glitzer, kein Feuer mehr!

Die ganze Gegend funkelte vor Glitzer und auch alle Tiere glitzerten und selbst der Herzbaum strahlte vor Glitzer! Am allermeisten aber glitzerte Yegor selbst! Der Drache war von dieser Veränderung selbst so überrascht, dass er gar nicht merkte, wie ihn plötzlich alle Tiere anschauten und riefen: „Yegor, wie schön du aussiehst! Schau nur, was mit dir passiert ist!“

Yegor konnte es nicht fassen. Er holte erneut tief Luft – doch wieder kam nur Glitzer aus seinem Maul! Und beim dritten Mal ebenso! Er wunderte sich, was mit ihm geschehen war. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich hell und rein. Und ganz leicht kam er sich auch vor. Seine Schwere und Traurigkeit waren mit einem Mal verschwunden. Und seine Wut hatte sich in Nichts aufgelöst. Mit einem Mal spürte er zudem, dass er sich bei den anderen Tieren wohlfühlte und dass diese keine Angst mehr vor ihm hatten. Die Vögel flogen ganz nah über ihm, so dass er die Luft, die ihr Flügelschlag verursachte, spüren konnte. Es war ihm, als würde seine Lederhaut gestreichelt werden. Die Marienkäfer setzten sich auf ihn, und sein Glitzerpanzer sah nun wie mit roten Punkten verziert aus, und die Rehe, die Hasen und sogar der Hirsch tanzten ausgelassen nach dem Rhythmus der Schmetterlinge im Reigen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Yegor ein wirkliches Miteinander. Und er sagte zu den Tieren: „Von jetzt an werde ich euch nicht mehr angreifen, sondern euch beschützen.“ Da ging ein Windhauch durch den Herzbaum, so dass sich all seine Blätter bewegten, als würden sie Beifall klatschen. Sie waren jetzt noch schöner als je zuvor – und ihr Rand glitzerte wie das Meer, wenn der Mond sich darin spiegelt.

 

Manou war bei alledem nicht zu sehen. Von Ferne betrachtete sie das Geschehen beim Herzbaum, die tanzenden Tiere und den glitzernden Yegor. Und sie war sich ziemlich sicher, dass es einen Weg zum Herzen eines jeden Wesens gab, den man einschlagen konnte, um es zu retten und seine Gaben für die Gemeinschaft zu nutzen.

Plötzlich sah sie, dass Yegor nach ihr suchte. Und als er sie gefunden hatte, war das der Beginn einer ganz besonderen Freundschaft. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden …


 

 

 

 

Foto: © stock.adobe.Elena Schweitzer