Dr. Karl-Heinz Rauscher

 

Liebe Lovebirds,

Dr. Karl-Heinz Rauscher ist einer der Experten im Team „Julia“. Er wirkt nicht nur als Internist, sondern auch als Therapeut und Experte für Familienaufstellung. Und das Thema „Herz“ beschäftigt ihn sowohl aus medizinischer, als auch aus psychologischer und philosophischer Sicht, wie sein nachfolgender Beitrag zeigt. Er ist zwar nicht einfach zu lesen, aber es lohnt, sich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, denn mehr oder weniger haben wir alle entweder mit dem verleugneten oder dem zu weiten Herzen zu tun …

Eure Julia.


 

Dr. Karl-Heinz Rauscher,
Herzqualitäten

 

I Das Syndrom des verleugneten Herzens (Heart Denying Syndrom)

  1. Geben und Nehmen beim Syndrom des verleugneten Herzens

 

Das Normale und Gesunde in den Angelegenheiten des Herzens ist der rhythmische, ungehinderte Fluss und das gleiche Maß. Das Kranke ist die Verhärtung, die Verengung, die Trägheit und die Raserei. Gesundheit am Herzen bedeutet Kraft in der Weitergabe des Empfangenen. Das Herz schöpft aus einem unendlichen Kreislauf. Zurückbehalten wird nichts. Das Lebenselixier, das empfangen und weitergegeben wird, steht in abertausend Kanälen mit dem Universum in Verbindung. Die Krankheit ist die Missachtung dieses Prinzips des gleichen Maßes im Empfangen und im Geben. Wird die Enge das Maß aller Dinge, kann nicht empfangen werden, was kommen möchte, und nicht weitergegeben werden, was weiter möchte. Es bleibt zu lange und verhärtet sich dort, wo an Weite die größte Not ist. Gehen darüber Jahre hin, stirbt ein Teil des Herzens aus Mangel an dem Stoff, den das Feuer braucht. So führt die Missachtung der Herzensqualität zur Schwächung und schließlich zum Tod der Kraft, die das Geben vorantreibt und das Leben zum Pulsieren bringt. Der Mensch stirbt, wenn ein so wichtiger Teil wie das Herz missachtet und außer Betracht genommen wird. Die Missachtung des Herzens kann man in vielen Bereichen des Lebens wahrnehmen. Deutlich zu beobachten ist sie in der herzlosen Weise, in der in unseren Tagen Wirtschaft betrieben wird. Vor allem an den Auswirkungen kann man es sehen, Stichwort: Raubtierkapitalismus. Der Herzensqualität kommt  die zentrale Bedeutung zu, die sie auch im menschlichen Körper innehat. Überall dort, wo man so tut, als ob das Herz und sein Prinzip nichts gälten, wird die Qualität des Herzens missachtet. Dass es aber etwas gilt, zeigen die Folgen seiner Ausklammerung. In Zivilisationen des herzlosen Wirtschaftens steigen die Herz-Kreislauf-Krankheiten. Man traut dem Herz nicht zu, dass es gut wirtschaften kann. Freilich kann es das auch nicht, wenn es alleine steht. Was soll das Herz ohne das Gesamte. Der ganze Mensch, der alle seine Teile in sich wiederfindet und achtet, wirtschaftet gut. Doch das Herz steht in der Mitte. Was im Herzen nicht fließt, fließt nirgendwo. Diejenigen, die gewohnt sind, das Pendel auf der herzlosen Seite festzuhalten, haben Angst, ihm freien Lauf zu lassen. Das Pendel muss der anderen Seite zufallen, will es die Mitte finden.

Man glaubt, alles zu verlieren, wenn man der Natur des Herzens freien Lauf lässt und der Fluss in Gang kommt. So werden die Fäuste nur noch fester um das Pendel des notwendigen Ausgleichs geballt, solange oft, bis das Gestänge bricht und die Zeit, in der Ausgleich möglich wäre, verstrichen ist. Um das zu verhindern, müssten die Herzlosen in der Vorahnung ihrer Mitte die Fäuste öffnen und die Ellbogen anlegen. Dadurch erst wird Schulterschluss möglich. Wenn auch noch die Arme dem Kampf entzogen werden und sich verbindend um die Schultern der Nächsten legen, kommt die Kraft des Herzens ins Kreisen. Das Pendel gewinnt Raum. Der Lauf des Kreises beginnt. Das Herz ist am rechten Fleck und steht in freiem Fluss mit allen anderen menschlichen Qualitäten. Der Mensch ist am rechten Fleck und steht in freier Verbindung mit allen anderen. Die Wirtschaft läuft gut. Außenstehende gibt es nicht mehr. Analog gilt das Gesagte für alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens, z.B. für persönliche Beziehungen oder für das Zusammenleben von Völkern oder Volksgruppen.

 

  1. Das Mitgefühl beim Syndrom des verleugneten Herzens

 

Das gesunde Herz gibt, was es braucht. Der stete Rhythmus und die Geschwindigkeit des Flusses sind veränderbar, je nachdem, was in der Umgebung los ist. In Zeiten der starken Bewegung schlägt es kräftiger und schneller, in ruhigen Zeiten schöpft es selber Kraft. Beim Syndrom des verleugneten Herzens wird dem Herzen nicht erlaubt mitzufühlen, wahrzunehmen, was das Ganze braucht, und dementsprechend tätig zu werden. Die Herzensqualität wird missachtet. Das Mitgefühl, das die Stärke zur notwendigen Handlung in sich trägt, wird als Schwäche missdeutet. Die Folge ist ein Stau des Lebenselixiers vor dem Herzen. Anstatt dass es durch Mitgefühl beschleunigt weitergegeben wird, muss es untätig und alles andere behindernd abwarten. Der Zugang zur Erfrischung und Belebung durch den engen Kontakt mit dem ganz Großen wird ihm in der gebotenen Zeit verwehrt. Das Herz, dem Mitgefühl nicht erlaubt wird, wird zum Hindernis des Lebens. Das Elixier, das, im freien Austausch der flüchtigen Geister erhellt, prickelnd das Leben ins Ganze weitertragen sollte, verkommt zum dunklen, trägen Saft der Depression. Der gesamte Mensch wird minderversorgt mit der prickelnden Herzensqualität der Lebensfreude. So kommt Leid auch über seine Tat und von seiner Tat und seiner Wirkung. Sogar dort, wo er selbst Leiden schafft, kann er es im Rückfluss nicht wahrnehmen, nicht mitfühlen. Das Dunkle in ihm nimmt noch mehr Raum ein. Der Stoff, in den die Pflanzen das Licht der Sonne so liebevoll verpacken, wird unempfangen wieder ausgeatmet. Er will ohne Mitgefühl nicht kommen. Die Not wird groß. Der Mensch ringt nach Atem, kann aber nicht schöpfen, was er braucht. Auch sitzt das Herz in Aufregung ob der ungetanen Taten. Es will schneller schlagen, aber es darf nicht, weil es unterdrückt ist. Die Aufregung steigert sich mit der Zeit, bis das Herz flimmert. Dann schaut der Mensch in Sekunden den Tod. Mit einem Schlag sind alle Pläne zunichte.

 

II Das Syndrom des zu weiten Herzens (Syndrom of the unhealthy large heart)

 

Das gesunde Herz nimmt den Platz ein, der ihm gebührt und gemäß ist. Es ist der Platz eines Dienenden im Zentrum des Lebens. Räumt jemand der Herzensqualität einen größeren Raum ein, als ihm zusteht, entsteht das Syndrom des zu weiten Herzens. Man kann es in vielen Bereichen beobachten, besonders bei aufopfernden Müttern, bei Therapeuten oder anderweitig helfen wollenden Kreisen, auch bei Lehrern. Einen zu großen Raum hat das Herz bei Menschen, die mehr geben wollen, als ihnen zusteht. Es wird mehr ausgeschüttet als empfangen wird, mehr als gebraucht und gewollt wird, auch mehr als auch bei gutem Willen genommen werden kann. Das, was zu viel ausgeschüttet wird, baut einen Druck auf, vor dem Schutz die natürliche Reaktion ist. Die weiterführenden Kanäle werden enger. Das Herz, das weiterhin zu viel ausschüttet, hat es noch schwerer. Der Widerstand des Ganzen gegen das Zuviel an Angebot wird mit der Zeit so stark, dass sich Teile des Ganzen vollständig für das vom Herzen Kommende verschließen und absterben. Die Folgen sind Lähmungen und Amputationen. Nichts geht mehr. Das Handeln wird schwer, das Denken stumpf und die Aussichten trübe. Auch erschöpft sich das Herz mit der Zeit und damit sein Mensch. Das Gefüge geht verloren und auch die klare Form. Das Herz wird viel zu weit. Die Kraft versiegt vollends. Das, was zufließen will, wird aus Herzensschwäche zurückgewiesen. Die Galle steigt ins Blut. Das Herz, das zu viel geben wollte, wird bitter und böse. Der stete Rhythmus ist verloren. Es herrscht das Chaos. Aus dem Elixier des Lebens macht das Herz nun dunkle Klumpen und schleudert sie denen vor die Füße, die nicht genommen haben, was es im Übermaß geben wollte. Der Tod ist nicht mehr weit, tritt manchmal schnell ein. Das weite Herz gibt nichts mehr. Es hat sich viel zu wichtig genommen. Es kam sich vor wie einer, der glaubt, er besäße die Macht, mehr zu geben als ihm zufließt, und das Recht, das zurückzuweisen, was für ihn bestimmt ist.

 

Titelfoto: © stock.adobe.com-s.kobold