Liebe Lovebirds,

über ein Thema müssen wir uns unbedingt unterhalten: die Liebesgeräusche. Eigentlich sind sie ja unvermeidbar, aber machen natürlich auch Probleme, vor allem, wenn man Nachbarn bzw. eine hellhörige Wohnung hat. Soll man Rücksicht nehmen? Aber Liebe ist doch laut, anarchisch, wie kann man sich da zurücknehmen? Andererseits: Wie ist es, wenn Ihr selbst Ohrenzeugen von Lust und Leidenschaft werdet? Klopft Ihr dann gegen die Wand oder mit dem Besen gegen die Decke? Da das Thema – auch aus männlicher Sicht – nicht einfach zu behandeln ist, hat sich unser Autor Helmut Klemm darüber profunde Gedanken gemacht. Was er zu sagen hat, lest Ihr hier. Mich würde sehr interessieren, was Ihr dazu sagt. Auf unserer Facebook-Seite könnte Ihr das Thema diskutieren.

Und vergesst nicht, gemeinsam glückwärts zu gehen!

Eure Julia


 

1 Das am 19. August 1997 vom Amtsgericht Warendorf in Nordrhein-Westfalen unter dem Aktenzeichen 5 C 919/97 verkündete Urteil wird noch auf zahlreichen Onlineportalen und Webseiten zitiert. Das mag auch daran liegen, dass Fälle wie die damals verhandelte Ruhestörung durch sexuellen Verkehr zwar kaum jemanden verschonen, aber doch eher selten vor Gericht kommen.

2 Man verständigt sich, mäßigt sich oder zieht in hartnäckigen Fällen aus. Die geringe Klagebereitschaft zeigt sich zum Beispiel bei den 46 gerichtlichen Entscheidungen über Lärmbelästigung, die das juristische Informationsportal Rechtsindex auflistet. Dabei spielen nur in zwei Fällen Intimgeräusche eine Rolle. Viel häufiger wird über lärmende Kinder und Baulärm gestritten.

3 Bei dem in Warendorf verhandelten und am 30. Januar 2019 vom Verwaltungsgericht Saarlouis aktuell zitierten Fall wurde den Beklagten – Bewohnern eines Sechsfamilienhauses – „untersagt, in ihrer Wohnung durch Musik, Streitigkeiten und Lustgeräusche beim Sexualverkehr Lärm zu verursachen, welcher Zimmerlautstärke übersteigt“. Besonders erwähnt werden „hierbei ausgestoßene Yippie-Rufe“.

4 Auch diese verbale Ornamentierung des erotischen Lautkonzerts macht das Unterlassungsgebot noch nicht zu einem „legendären Urteil“, wie es unlängst online in einem Servicebeitrag zur Immobiliennutzung bewertet wurde. Als nachhaltig hat sich die Entscheidung wohl eher erwiesen, weil sie den Charakter von Intimgeräusche in merksatzartiger Klarheit festlegte.

5 „Die Beschränkung der Geräuschentwicklung“ – so das Gericht – „stellt keinerlei Einschränkung des Rechts der Beklagten auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß Artikel 2 des Grundgesetzes dar“, wie sie geltend gemacht hatten. Der Einwand, „beim Sexualverkehr handle es sich um ein wenig kontrollierbares oder steuerbares Verhalten“, wurde abgewiesen.

6 „Die Beklagten“ – so das Gericht weiter – „sind als erwachsene Menschen auch bei der Ausübung ihres Sexualverkehrs in der Lage, ihr Handeln insoweit zu steuern, daß sie keinen Lärm verursachen, der so laut ist, dass er in die Nachbarwohnung dringt. Ein grenzenloses Ausleben des Sexuallebens“ – resümiert das Gericht – „ist von Artikel 2 des Grundgesetzes nicht gedeckt.“

7 Nach diesem Urteil darf Ekstase sein, aber nicht bemerkt werden, sonst unterliegt sie Einschränkungen wie jede potentiell ruhestörende Tätigkeit. Allerdings scheint es nicht leicht, Intimgeräusche wie Lärm von Staubsaugern zu behandeln. Deshalb suchen Betroffene Rat für den Umgang mit dem Allzumenschlichen, dem man vielleicht doch einen Rest Unverfügbarkeit und damit eine Art Würde zubilligt.

8 Auf Onlineplattformen findet ein reger Austausch über taktvolles Verhalten und vielleicht doch unvermeidliche Eskalationsstufen statt. Auch der Mediziner und Jurist Dr. Dr. Rainer Erlinger sah sich in  seiner „Moralkolumne“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung unlängst veranlasst, die „Gewissensfrage“ einer Berlinerin zu diskutieren, ob sie einem Nachbarn sagen solle, er habe „zu lauten Sex“.

9 Einvernehmlicher Sex sei etwas „moralisch Unbedenkliches“, hält Erlinger zunächst fest. Deshalb solle man sich „nicht einmischen“. Dass durch die „Fixierung aufeinander“ die Umwelt oft ausgeblendet werde, entpflichte die Akteure jedoch nicht, Rücksicht zu nehmen. Sofern sich der Sex eines Nachbarn „zu sehr ins eigene Leben einmischt“, muss man laut Erlinger Rücksicht „notfalls auch einfordern“.

10 Gerade im Hinblick auf die selbstvergessen sich Liebenden solle man das tun, denn sie würden geradezu einladen, bei ihrem Sex dabei zu sein – und das stünde der Intimität entgegen, schreibt Erlinger. Das würde allerdings bedeuten, die Lärmgeplagten gewissermaßen zu Hütern der Intimität der Lärmverursacher zu ernennen und ihnen die Rolle als wechselseitige Intimitätsmanager abzunehmen.

11 Erlinger ignoriert diese geteilte Verantwortung, und er hat seine Betrachtungsoptik auch nicht weit genug aufgezogen, wie das der amerikanische Psychologe Christopher Ryan und seine Coautorin Cacilda Jethá – eine Psychiaterin – in einem Buch getan haben, das in einer ganz neu erzählten Geschichte der Sexualität eine eindrucksvolle Tiefendimension der intimen Lustlaute erschließt.

12 Unter dem anspruchsvollen Titel „Sex – die wahre Geschichte“ präsentieren sie eine Rekonstruktion der Prähistorie, nach der sich „die Menschwerdung in kleinen Gruppen vollzog, in denen nahezu alles geteilt wurde – sogar sexuelle Lust“. Im Rahmen dieses Szenarios sei es ihnen möglich, versprechen sie ihren Lesern, auch aufdecken zu können, „was hinter den nächtlichen Lustschreien Ihrer Nachbarin steckt“.

13 Bei dieser Einengung auf die „Nachbarin“ berufen sich Ryan und Jethá zunächst in einer Art sekundären Begründung auf Umfragen im Rahmen ihrer Vortragstätigkeit nach den Verursachern jener Laute, die – wie nur das Weinen eines Babys – leichter als alle anderen identifiziert und schwerer als alle anderen ignoriert werden könnten. Weltweit habe es darauf immer die gleiche Antwort gegeben.

14 „Das ‚sanftmütige‘, ‚sittsame‘ und ‚spröde‘ Geschlecht ist die Quelle all des Stöhnens, Seufzens und der Anrufungen Gottes, unbekümmert um alle Nachbarn“, schreiben die Autoren und geben diesen Lustlauten – „weibliche Kopulationsrufe“ in ihrer Terminologie – dann auch evolutionstheoretisch einen bedeutenden Rang. Es sollen akustische Bezeugungen für „eine prähistorische Promiskuität“ sein.

15 Ihrer Darstellung zufolge hat sich die sexuelle Evolution im Wesentlichen vor der Bildung monogamer Kernfamilien in egalitär organisierten Wildbeutergruppen vollzogen, bei denen häufige sexuelle Kontakte bei raschem Vollzug gruppendynamisch geboten gewesen seien. Weibliche Kopulationsrufe hätten dabei den Samenerguss des aktuellen Partners beschleunigt und weitere Partner herbeigerufen.

16 Der verführerische Sound sollte antreiben und anlocken. Deshalb war er wohl schon sehr früh in finaler Ausrichtung komplexer moduliert und schneller getaktet, wie es sich schon bei unseren nächsten Verwandten in der Hominidengruppe zeigt und im akustischen Begleittext menschlicher Intimität offenbart, den Peter Sloterdijk geistreich literarisch behandelt und philosophisch gedeutet hat.

17 Sein 2016 erschienenes Buch „Das Schelling-Projekt“ lässt der kreative Autor und Denker in einem Hörspiel ausklingen, das die „akustischen Spuren der weiblichen Lust“ versammelt und – „in Fortsetzung der von den Dadaisten erfundenen Silbenmusik“ – zu einem „Lautgedicht“ arrangiert. Das Ergebnis ist eine „Orgasmus-Kantate“, ein Beitrag zur „Pornoakustik“ – ein noch „kaum betretenes Gebiet“.

18 In diesem Hörstück gipfelt der als Wissenschaftssatire getarnte Diskurs über ein Forschungsprojekt zu den „biosozialen Prämissen des weiblichen Sexualerlebens“. Thematisiert wird dabei unter anderem „die Spanne, die die Lust brauchte, um auf die Höhe des Möglichen zu kommen“. Es geht – in anderen Worten – um die Genese der „Liebesnacht“. Auch von „Höhepunktforschung“ ist die Rede.

19 An den Philosophen Schelling lehnt sich das Projekt an, weil dessen Naturbetrachtung schon eine „globale Gynäkologie“ gewesen sei, notiert Sloterdijk in gewohnt betörender Begriffsumschrift. Seitdem könne man wissen, dass „Gipfelerfahrungen“ nicht nur intellektuell und religiös möglich seien, sondern auch „in sinnlichen Ausnahmezuständen, die im Rahmen sexueller Handlungen auftreten“.

20 Die zentrale Erfahrung dieser Art ist in der „Orgasmus-Kantate“ modelliert. Sie ordnet die einschlägigen Lautphänomene in ein Tableau, das wie das Rollenrepertoire eines Gesangsstücks aufgefächert ist. Genannt werden: die Summerin und die Schreierin, die Stöhnerin und die Erstickerin, die Gröhlerin und die Fleherin, die Jublerin und die Wimmerin und schließlich die Bejaherin und die Haucherin.

 

 

21 In musikalischer Notation ergeben sich daraus „fünf zweistimmige Vokalisen“. Konsonantische Komplexe wurden nicht registriert. Es wäre auch zu bedenken, ob die über die Musik hinaus auf dieses neue Feld geführte Phänomenologie des Hörens Raum für eine „Verbalisiererin“ hergeben könnte und für eine „Verstummerin“, die Erregungspotentiale eher körperlich in Erbeben, Zucken und Konvulsion ableitet.

22 Die von Sloterdijk isolierten Stimmlagen fügen sich kaum in einen Typenkreis, sondern eher in ein Tonspektrum, das mit dem Aushauchen anfängt. Auf der fortschreitenden Linie zum Ausatmen erstreckt sich die Lautskala – vor allem im Umkreis der Vokale A und O – vom Stöhnen über das Schreien ins Ungeahnte hinaus. Eher verhaltene Töne wie etwa beim Summen spielen auf die konsonantische Ebene hinüber.

23 Wie Sprachlaute sind auch Lustlaute Artikulationen, die vor allem dem Ausatmen aufsitzen. Beim weniger auffälligen Einatmen bezeugt das Hecheln – das sich jagende Ein- und Ausatmen – und das Japsen die Luftnot und damit die Dramatik des gesamten Aktes. Insgesamt scheint der klagende Tonfall außerordentliche Qualen zu bekunden, wenn nicht die ausdrückliche Bejahung – ja, ja, ja, oh ja – dagegen stünde.

24 Auf der Zeitachse – gewissermaßen in syntaktischer Formation – sind stoßweise auftretende einzelne Laute zu registrieren, hochgejubelte Lautgirlanden, die einem Moment lang im Raum stehen zu bleiben scheinen, an- und abschwellende Presslaute und Serien lang anhaltender Schreie auf dem Höhepunkt, die sich in oft endlos erscheinenden Folgen von abklingenden Lauten erschöpfen.

25 Als unumstritten gilt, dass die Erlebnisqualität beim weiblichen Orgasmus das Erleben der Männer „um ein Vielfaches“ – so Sloterdijk – übertrifft. „In der jubelnden Frau kommt das Universum zu sich“, schwärmt er. Der gemeine Mann dürfte als Liebhaber kaum über die vage Gestalt als „keuchender Schatten“ hinausgekommen sein, wie er in der Frühzeit von den Frauen wahrgenommen worden sein müsse.

26 Dieses Ungleichgewicht ist schon in der Antike bemerkt und von dem Seher Teiresias fachkundig beurteilt worden. Er konnte aufgrund mehrfachen Wechsels zwischen den Geschlechtern den Streit unter den Göttern schlichten, ob Männer oder Frauen mehr Vergnügen an der Liebe hätten, und gab – so Sloterdijk – zu Protokoll, dass die Lust der Frauen „neunmal größer“ als die der Männer sei.

27 Seitdem spricht sich das dem Philosophen zufolge „am besten gehütete Geheimnis der Frauen“ langsam, aber unaufhaltsam herum. Für ein Rätsel hält er die „Entfaltung luxurierender Sexualität“ bei den Frauen nicht, sondern für ein reines Steigerungsphänomen. „Leben ist nicht bloß Flucht nach vorn“, schreibt Sloterdijk, „es ist vor allem Flucht nach oben“.


 
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