Liebe Lovebirds,

Dating-Apps, Sextoys, Liebesroboter: Wie sieht die Liebe der Zukunft aus? Wie lieben wir in 10, 20, 30 Jahren? Ich mache mir viele Gedanken darüber. Es ist ja heute schon so kompliziert. Komplizierter als früher? Sind wir nicht inzwischen viel zu gestresst für die Liebe? Wie auch immer… oft ist die Kunst geradezu prophetisch. In Büchern und Filmen werden Szenarien vorphantasiert, die viele Jahre später erschreckend real sind. Auch das Theaterstück „No Sex“ von Toshiki Okada scheint mir ein solches Werk zu sein. Müssen wir Angst bekommen?

Ich will weiter an die Möglichkeit des Glücks glauben.

Eure Julia.

 


 

NO SEX!?

Angenommen, man will Sex, hat aber keinen. Ist das nicht doof? Im Theaterstück „No Sex“ kann das schon mal vorkommen. Es geht darin um die Problematik von vier jungen (japanischen) Freunden, die zwar die Kraft des Triebes in sich entdecken, sie aber aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung unterdrücken und eher Libidoverzicht leisten als dass sie sich auf ein amouröses Abenteuer einlassen würden. In einer Karaoke-Bar versuchen sie, von Gefühlen zu singen, haben aber kaum welche mehr und fragen sich, wie es wohl sein würde, wenn sie welche hätten. Somit salbadern sie wie die Jungs aus „The Big Bang Theory“, stellen alle möglichen Überlegungen zum „Inter-Treatment“ (ihre Begrifflichkeit für den Geschlechtsverkehr) auf und halten die Sprachlosigkeit zwischen sich und „den anderen“ für ein Problem des jeweiligen „Clusters“. Dann gibt es noch den Besitzer der Bar und eine ehemalige Putzfrau aus einem Love-Hotel, beide bleiben aber blass und können den jungen Leuten nichts entgegensetzen, geschweigen denn ihnen in ihrer Hilflosigkeit zur Seite stehen.

 

IN GROSSSTÄDTEN  LEBT JEDER DRITTE ALLEIN

Dieses Phänomen ist in vielen Metropolen der Welt zu beobachten. Sah man in den 80er, 90er und 2000er Jahren in den Cafés, Bars und Restaurants meist noch gegengeschlechtliche Pärchen, so findet man heute an den meisten Orten zwei bis vier Freunde oder zwei bis vier Freudinnen, die „ausgehen.“ Was ist geschehen? Vermutlich das, was Toshiki Okada mit seinem Stück zu beschreiben versucht. In den Industriegesellschaften nehmen lange Arbeitszeiten, Berufszwänge, Freizeit- und sonstiger Konsum derart überhand, dass sich immer weniger Menschen auf den Stress einlassen wollen, welchen die Liebe in der analogen Welt mit sich bringt. Der Sexualwissenschaftler Volker Sigusch hat zu diesem Phänomen festgestellt, dass die jetzige Generation durchaus Liebe und Sex trennen kann; es gibt Tinder, Swingerclubs etc., genügend Möglichkeiten, seine Triebe auszuleben, so man noch welche hat. Doch es gibt in einer pornographisierten Gesellschaft kaum noch ein verstärktes Bedürfnis nach echten Begegnungen von Mensch zu Mensch mit all ihren Komplikationen, aber eben auch mit all ihren Freuden. Beim Homo Digitalis verkümmern die Triebe und die Gefühle. Sex wird zur uninteressantesten Nebensache der Welt. Das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz verstärkt diese Tendenz in erschreckendem Maße. Die virtuelle Welt wird wesentlich interessanter als die reale. Sie ist zudem praktischer. Was einem nicht gefällt, kann man im wahrsten Sinn des Wortes ausblenden. Und was einem gefällt, holt man sich problem- und kostenlos nach Hause. Verhütung und Geschlechstkrankheiten sind zudem passé. Trennungsschmerz wird unbekannt.

 

DAS ENDE DER LIEBE?

Hat die Liebe als ideale Form der Paarbeziehung ausgedient? Bringen die digitalen Welten ganz neue zwischenmenschliche Begegnungen hervor? Werden Sexroboter die Zukunft des Geschlechtlichen bestimmen? In Japan zumindest scheint man auf dem Weg dorthin zu sein. Die Hälfte aller 18-24jähren, so heißt es, hatte noch nie Sex, und die meisten Ehepaare, die schon über einen längeren Zeitraum verheiratet sind, interessieren sich mehr für ihr berufliches Fortkommen als für die Lust, die der Körper bieten kann. Zum beruflichen Stress, der ja bekanntlich der Libido nicht förderlich ist, gesellen sich Platznot und Konsumzwang, was wiederum das Entstehen von immer mehr „Lovehotels“ und Karaoke-Bars begünstigt.

 

 

SIND WIR AUCH SCHON SO WEIT?

Zumindest können wir konstatieren, dass es sich mit der Liebe nicht mehr ganz so easy verhält wie noch vor zwanzig Jahren. Die sexuelle Befreiung wurde durch AIDS gestoppt, die Frauenbewegung war schon einmal viel weiter als sie heute ist, und die Hingabe an virtuelle Freu(n)de(n) bringt auch nicht das erhoffte Glück. Im Gegenteil: Je mehr der Mensch metrisch wird, je mehr er sich von Likes, Followern und Fans abhängig sieht, umso weniger kann er zu einem Wesen erwachsen, das sich souverän einen Lebens- und Liebespartner sucht – und zwar auf der Straße, nicht über Datingplattformen oder -apps. Bei diesen können zwar gemeinsamen Interessen und Werte als Basis für eine Beziehung herausgefunden werden, aber es fehlt die Magie des Zufalls, welche die Beteiligten später von der schicksalhaften Fügung des Kennenlernens schwärmen lässt – was sich gewiss besser anfühlt als das Bewusstsein, dass es der Algorithmus einer Maschine war, der einen zusammenführte (Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel). Wird die Liebe in der uns bekannten Form  also über kurz oder lang verschwinden? Glaubt man dem Stück von Toshiki Okada, dann ganz sicherlich.

 

 

 


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dan talson

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